Oder: Was du über Trauma-Heilung unbedingt wissen solltest.
Wir haben oft hohe Erwartungen und Ansprüche an uns selbst. Auch wenn es um unsere eigene Heilung und Entwicklung geht.
Wenn meine Klienten „ihre Traumata heilen wollen“, begegnet mir oft folgendes Phänomen:
Man hat etwas verstanden und erkennt die Dynamik, die läuft. Und dann erwartet man, dass man es sofort verändern kann.
Leider sind Wissen und Umsetzen aber nicht das Gleiche, gerade wenn es um Beziehungen geht und frühe Prägungen und (Entwicklungs-) Traumata mit rein spielen.
Zum Beispiel gehst du mit den besten Vorsätzen in schwierige Gespräche mit deinem Beziehungsgegenüber, in denen du dir vornimmst in „Ich-Botschaften“ und ohne Anklagen und Vorwürfe zu kommunizieren… Es endet aber wieder mit Schuldzuweisungen und Geschrei.
Oder du nimmst dir vor, nicht mehr so eifersüchtig zu sein, wenn der andere abends allein mit seinen Freunden unterwegs ist… Und am Ende schiebst du doch wieder Panik und drehst durch, weil er sein Handy nicht abnimmt.
Oder du willst nicht mehr in Schweigen verfallen, wenn dein Lieblingsmensch über seine Gefühle mit dir reden will und dich fragt, ob du eigentlich zuhörst… und plötzlich weisst du wieder nicht mehr was sagen und bringst kein Wort mehr raus.
I feel you! Gute Vorsätze kennen wir alle. Und dass sie wider besseren Wissens und allen guten Vorsätzen zum Trotz nicht klappen auch.
Du bist also nicht allein!
Aber Trauma-Transformation ist und bleibt ein Prozess. Es geht nicht von jetzt auf gleich, auch nicht von heute auf morgen.
Heilung verläuft anders. Sie verläuft nicht linear, sie braucht Zeit und ist nicht mit Anstrengung und Leistung erreichbar oder zu beschleunigen.
Transformation ist ein Prozess. Ein Lernprozess.
Denn bei Trauma-Transformation geht es um das Ergänzen alter und bewährter Handlungsmuster durch ungewohnte, neue Strategien. Es ist wie beim Lernen generell. Das ist ein super komplexer Prozess. Und wenn frühe Prägungen, alte Muster und (Entwicklungs-)Traumata eine Rolle spielen, verläuft Lernen nochmal anders, langsamer und Wissen allein reicht nicht aus, um etwas anders zu machen.
Wenn Trauma eine Rolle spielt in deinen Beziehungsdynamiken, dann reicht das Wissen darum, wie du es besser machen könntest nicht aus, um wirklich etwas zu verändern.
Stattdessen verläuft ein (Trauma-) Transformationsprozess in vier Phasen, die ich dir jetzt näher vorstellen möchte.
PHASE 1: Unbewusste alte Muster
(Trauma-) Muster laufen unbewusst ab.
Ich weiss nicht, was läuft, sehe mich als passiv. Etwas geschieht mir.
Zum Beispiel, dass das Gespräch mit meinem Beziehungsgegenüber wie ferngesteuert immer wieder aus dem Ruder läuft oder mich die Eifersucht „überkommt“. Ich empfinde es so, dass die Dinge automatisch ablaufen und ich nichts ändern kann. Es ist einfach so. Und schuld ist der andere.
PHASE 2: Bewusste alte Muster
(Trauma-) Muster laufen bewusst ab.
Ich erkenne, dass ich aktiv (mit)gestalte. Ich würde mein Erleben oder Verhalten gern ändern, aber es gelingt noch nicht.
Dies ist eine besonders herausfordernde Entwicklungsphase. Denn ich schaue mir dabei zu, wie ich das Gespräch mit meinem Beziehungsgegenüber eskalieren lasse. Vielleicht fällt mir sogar auf, dass ein Streit mit dem Ex fast 1:1 nach dem gleichen Schema abgelaufen ist. Oder ich werde eifersüchtig, obwohl ich mich versuche zu beruhigen, während ich da abends allein auf der Couch sitze. Ich erkenne, dass meine Katastrophen-Gedanken nicht hilfreich sind, aber ich kann sie nicht stoppen.
Wenn du dir dabei zuschaust, wie du alte Muster wiederholst, wider besseren Wissens, bist du in Phase 2. Man könnte auch sagen: Bewusste Inkompetenz (ein Begriff aus der Lernpsychologie).
Wir checken was läuft, aber können es NOCH nicht ändern. Wir würden es gern anders machen, aber wissen NOCH nicht wie. Also theoretisch schon, aber praktisch funktioniert es nicht.
Diese Bewusstheit kann weh tun, weil sich durch die Erkenntnis und das Verstehen ein Veränderungswunsch bildet. Und der kann zum Veränderungsdruck werden.
Diese Phase lässt sich leider nicht überspringen. Oder zum Glück. Denn sie gehört dazu und ist essenziell für deine Entwicklung.
Zu erkennen, was läuft, zuerst nach und dann während es läuft, ist bei Trauma ein wesentlicher Heilungsschritt. Das Bewusstsein teilweise und mehr und mehr im Hier und Jetzt zu behalten, statt ins Dort und Damals gezogen zu werden.
An dieser Stelle: Sei liebevoll mit dir. Mach dir bewusst, dass du mitten in einem grossen, komplexen Veränderungsprozess bist. Was du erlebst, ist normal und wichtig!
PHASE 3: Bewusste neue Muster
Ich entscheide mich bewusst dafür, anders zu denken und zu handeln als bisher. Neue Muster bilden sich. Sie sind noch ungewohnt, fühlen sich vielleicht auch fremd, unsicher, irgendwie „falsch“ an, weil ungewohnt.
In dieser Phase habe ich bereits eine gewisse innere Kapazität aufgebaut und genug blockierte Energie frei gesetzt, dass nun wirklich was anders laufen kann. Ich kann mich vielleicht im Gespräch mit dem anderen stoppen, wenn ich merke, dass ich in Schuldzuweisungen verfalle. Vielleicht bitte ich um eine Auszeit, atme tief durch und probiere es nochmal mit einer sanfteren „Ich-Botschaft“. Oder es gelingt mir mich abzulenken und eine liebe Freundin anzurufen, mit der ich über meine Arbeit plaudere statt mir auszumalen wie mein Liebster mich gerade im Ausgang mit seinen Freunden betrügt.
Es gelingt mehr und mehr mit dem Bewusstsein im „Hier und Jetzt“ zu bleiben statt ins „Dort und Damals“, in alte Erlebens- und Verhaltensmuster gezogen zu werden.
Diese bewusste Erlebens- und Verhaltensänderung kostet Kraft. Es fällt uns nicht so leicht, denn wir machen etwas Neues. Wir durchbrechen eine altbewährte Routine. Wichtig ist, dass wir das wissen und nicht wieder auf altbekannte Pfade ausweichen, weil es sich „so komisch“ anfühlt, sondern dran bleiben. Uns erinnern, warum wir es anders machen wollen als bisher. Was wir nicht mehr wollen und was stattdessen. Und gleichzeitig ist es normal und darf sein, dass man mal in alte Muster zurück fällt. It is Part of the process.
Und wie man aus der Suchttherapie weiss (und alte Trauma-Muster haben einen gewissen Sucht-Charakter!):
Ein Vorfall, in dem man das alte Muster nutzt, muss kein Rückfall werden.
PHASE 4: Unbewusste neue Muster
Es haben sich neue Muster und Gewohnheiten gebildet, die natürlich geworden sind. Ich muss nicht mehr gross darüber nachdenken. Das Next level ist mein neues Normal.
Klar rede ich von mir und positioniere mich bei schwierigen Themen klar, aber deutlich, ohne in Anklagen zu verfallen. Natürlich weiss ich und fühle auch wirklich, dass meine Eifersucht unbegründet ist und geniesse wirklich meinen Abend allein zuhause, während der andere unterwegs ist. Oder mache selbst was Schönes ab.
Auch in dieser Phase kann es sein, je nachdem wie gestresst und angestrengt wir gerade generell sind, dass alte Muster wieder anklopfen. Aber nicht mehr so stark wie früher. Und nicht mehr so lang. Vielleicht kommt es auch zu kleinen „Rückfällen“, aber die habe ich schnell überwunden, ohne mich zu geisseln.
Was sonst noch wichtig ist:
Natürlich verläuft der Prozess der (Trauma-) Transformation nicht linear. Transformation ist kein Ereignis, sondern ein Prozess.
Und es kann auch sein, dass du die Phasen, je nach Thema, immer wieder neu durchläufst. Oder mal „zurückfällst“, weil eine neue Facette auftaucht.
All das ist normal und vollkommen in Ordnung.
Und wenn du Unterstützung brauchst, weil sich weiterhin – trotz allem besseren Wissen (auch dem aus diesem Artikel) – die alten leidvollen Muster und Beziehungsdynamiken wiederholen, dann melde dich gern bei mir und wir schauen wie ich dich auf dem Weg durch deinen Transformationsprozess unterstützen kann. Du bist nicht allein!
Und wenn du noch mehr wissen magst, höre dir die Podcast Folge Nr. 44 an: „Die 4 Phasen der Trauma Transformation“
Herzlich,
Linda
Liebe Frau Klein,
ein sehr interessanter Beitrag.
Ich habe seit 20 Jahren mit Angst und auch Depression zu tun. Vieles sicherlich auch aus der Kindheit, da ich eine depressive und ängstliche Mutter habe und einen Alkoholiker zum Vater.
Im Moment versuche ich das alles aufzuarbeiten und habe mich immer gefragt von welcher Stelle ich stehe, da ich mich im Moment sehr komisch fühle.
Nach dem Lesen der vier Phasen hoffe ich sehr dass ich in Stufe 3 angekommen bin.
Irgendwie bin ich körperlich sehr ruhig, aber habe das Gefühl, dass ich anders bin als früher und das macht mir wiederum Angst. Vor allem weil ich mich immer frage wie lange es dauert bis ich mich wieder wohl fühle.
VG
Tanja
Liebe Tanja,
danke für deine Nachricht und deine Offenheit. Es freut mich zu hören, dass dir der Podcast geholfen hat. Es ist tatsächlich so, dass wir uns nach jeder Veränderung erst mal seltsam fühlen können, weil das aAltbekannte, was vertraut war, durch etwas Unbekanntes ersetzt wurde. Das passiert uns auch, wenn es sich um positive und gewünschte Entwicklungen handelt (z.B. dass wir uns am 1.Tag im wunderschönen Urlaubsdomizil trotzdem erst mal fremd fühlen und am liebsten wieder abreisen würden, aber nach einer gewissen Zeit kommt man an und fühlt sich wohl). Wenn wir uns also persönlich weiter entwickeln und nicht mehr den alten Mustern und Strategien folgen, kann sich das – bei allem Guten – sehr fremd anfühlen und Angst machen.
Ganz herzlich,
Linda